Begriff und Praxis des Kirchenasyls werden sowohl theologisch als auch politisch heiß diskutiert.
Das schweizerische Netzwerk «migrationscharta» hat sich dieser Problematik angenommen und «Fünf Thesen zur politisch-theologischen Grundlegung der Solidarität mit Menschen in Not» veröffentlicht – eine schweizerische Adaption des Textes von Benedikt Kern (Institut für Theologie und Politik in Münster): «Fünf Thesen zur politisch-theologischen Grundlegung des Kirchenasyls» (2018)
Hier der Text in der Migrationscharta:
Menschen in Not: welche Vielzahl von Menschen und Situationen! Diese Thesen sind ausgerichtet auf Menschen, die auf die eine oder andere Art dem schweizerischen Asyl- und Ausländerregime unterworfen sind: im Asylverfahren, in der Nothilfe, im Ausschaffungs- oder Abschiebeprozess oder in sonst einem dunklen Winkel dieser Bürokratien.
Seit vielen Jahren wird von den Kirchen und vielen anderen gesellschaftlichen Kräften und Organisationen diesen Menschen Hilfe in ihrer Not zuteil. Diese Menschen unterstützen bedeutet oft auch Widerstand: gegen Abschiebungen nach Dublinverfahren, gegen die Zustände in Nothilfeunterkünften, gegen immer schikanösere und einschränkendere Regeln und vieles andere mehr. In beidem, in Hilfe und Widerstand äussert sich die Solidarität mit diesen Menschen.
Solidarität wird in letzter Zeit schlecht geredet. Einem Menschen zu helfen, wird vermehrt als Straftat gewertet und entsprechend mit Buße und Strafe belegt. Solidarisches Handeln, sehr oft entsprungen aus einem elementaren Gefühl für Menschlichkeit und Gerechtigkeit, ist unter Druck.
Solidarisches Handeln in den Formen von Hilfe und Widerstand bedarf deshalb einer fundierten theologischen Grundlegung, einerseits für Kirchgemeinden, Pfarreien und weitere interessierte Kreise zur Vergewisserung ihrer Praxis, anderseits um zu einem Diskurs über Solidarität beizutragen, der sich nicht in erster Linie auf eine moralische Perspektive stützt. Es lassen sich fünf zentrale Aspekte nennen, die hier als Thesen dargestellt werden.
Die Solidarität mit Menschen in Not als eine kirchliche Praxis der
- Solidarität eben
- Option für die Armen/der Positionierung gegen globale Ungerechtigkeit
- des prophetischen, öffentlichen und zeichenhaften Handelns
- des messianischen Gesetzesverständnisses
- des Menschenrechtsschutzes
Materialien
Es gibt hervorragende Informations- und Argumentationshilfen, die auch rechtliche Erwägungen einbeziehen:
Broschüre Kirchenasyl – herausgegeben vom Institut für Theologie und Politik in Münster. Über den Link gelangen Sie zur Einleitung dieser wichtigen Handreichung, die über das Institut für Theologie und Politik in Münster bezogen werden kann – für nur € 3.- zzgl. Versand.
Das Papier „Kirchenasyl“ der Kommission für Staatskirchenrecht und Religionsrecht der Römisch-katholischen Zentralkonferenz (RKZ) der Schweiz.
Weitere Materialien und Statements zum Kirchenasyl finden Sie auf der Webseite des Instituts für Theologie und Politik in Münster (Über die Verlinkung gelangen Sie direkt dorthin).
1. Das Einstehen für Menschen in Not als eine kirchliche Praxis der Solidarität
Hintergrund
An Menschen, die Nothilfe beziehen müssen, wird sichtbar, was bei viele anderen Menschen in Not auch zutrifft. – Die Nothilfe wäre von Haus aus eine noble, wirklich menschliche Einrichtung. In Art. 12 der Bundesverfassung steht unter dem Titel «Recht auf Hilfe in Notlagen»: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind». Dieser Artikel steht seinerseits unter der Kapitelüberschrift: «Grundrechte». Die Hilfe in Notlagen ist also ein Grundrecht im Sinne der Bundesverfassung (das an sechster Stelle unter den 28 aufgezählten Grundrechten figuriert). Die Grundrechte schützen alle Menschen, unabhängig von ihrem rechtlichen Status. Sie stellen eine grosse Errungenschaft dar im langen Kampf gegen Willkür und Machtentfaltung. Der noble Artikel 12 wird aber in schwer wiegender Weise missbraucht, indem er als Grundlage herhalten muss für die repressiv und schikanös ausgestaltete Nothilfe. Die Nothilfe verhilft in der heutigen Form nicht zu einem «menschenwürdigen Dasein». Sie wurde vielmehr in manchen Kantonen von Anfang an als Instrument der Abschreckung konzipiert, mit dem den Bezügerinnen der Nothilfe so viel Leid zugefügt werden soll, dass sie sich entschliessen würden, «freiwillig» die Schweiz zu verlassen. Diese «zweckorientierte Bürokratie des Leidens» (Martino Mona) untergräbt den Rechtsstaat, denn ein Staat darf nicht über die Zufügung von Leid seine Zwecke zu erreichen versuchen, will er ein dem Recht verpflichteter Staat sein. Den Menschen in der Nothilfe beizustehen und zu versuchen, sie vor Gewalt, psychischer Verelendung und sozialem Ausschluss zu schützen, ist eine Form der Solidarität.
Solidarität (griechisch: agape=Liebe) ist aus der biblischen Tradition heraus eine theologische Grundkategorie, die das Verhältnis von Menschen untereinander und mit der Schöpfung zum Inhalt hat; sie zielt darauf, die Verheissung der Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten einzulösen. Solidarität gilt dabei in erster Linie jenen, die versklavt sind und/oder sich im Kampf um Befreiung für die Überwindung ungerechter gesellschaftlicher Bedingungen einsetzen. Insofern ist sie eine Verhältnisbestimmung und nicht allein ein Gefühl, der Sympathie oder des Mitleids. Solidarität kann nicht nur erklärt werden – und dann folgenlos bleiben, sondern sie wird praktisch. Aus einer solchen Solidarität erwächst die Hoffnung auf Veränderung des Bestehenden und diese Hoffnung wiederum bestärkt die solidarische Praxis. Papst Franziskus hat es auf den Punkt gebracht: «Angesichts der Tragödie Zehntausender von Flüchtlingen, die vor dem Tod durch Krieg und Hunger fliehen und zu einem hoffnungsvolleren Leben aufgebrochen sind, ruft uns das Evangelium auf, ja es verlangt geradezu von uns, ‘Nächste’ der Geringsten und Verlassenen zu sein. Ihnen eine konkrete Hoffnung zu geben. Nicht nur zu sagen: ‘Nur Mut, habt Geduld…!’ Die christliche Hoffnung ist kämpferisch, mit der Beharrlichkeit dessen, der auf ein sicheres Ziel zugeht.» So verstandene Solidarität ist keine Vertröstung, sondern die Basis dafür, in die Verhältnisse einzugreifen im Sinne des Magnifikats (Lk. 1,26–56): Auf dass die Hungrigen zu Essen haben, die Reichen aber leer ausgehen; die Niedrigen erhöht werden und die Mächtigen vom Thron gestürzt werden.
These:
Angesichts der gegenwärtigen politischen Situation sind die Kirchen herausgefordert, Solidarität nicht nur zu bekennen, sondern sie exemplarisch auch praktisch werden zu lassen, z.B. beim Einsatz für eine menschenwürdige Nothilfe – auch wenn dies mit Konflikten mit staatlichen Stellen sowie politischen AkteurInnen einhergehen kann. Es geht darum, exemplarisch Menschen zu schützen, die von inhumanen Härten bedroht sind, wie sie zurzeit die Verwaltung und Verdinglichung von Menschen in der Nothilfe darstellt.
2. Die Solidarität mit Menschen in Not als eine Praxis der Option für die Armen und der eindeutigen Positionierung gegenüber globalen Kämpfen um Autonomie und Egalität statt Reproduktion und Stabilisierung des Status quo
Hintergrund
Armut, Kriege und der Klimawandel sind die wesentlichen Gründe für Flucht und Migrationsbewegungen. Viele dieser Gründe für Flucht und Emigration sind durch den globalen neoliberalen Kapitalismus verursacht und haben ihren Ausgangspunkt in der Wirtschaftsweise des globalen Nordens. Auf dem Weg in jene Länder, die von diesen Verhältnissen profitieren, stossen viele Menschen auf unüberwindbare Mauern, an denen unzählige in den letzten Jahren ihr Leben verloren haben.
Die parteiliche Solidarität beruht theologisch darauf, dass beim Verstehen der biblischen Schriften ein methodischer Schritt nötig ist, nämlich dass man sich bemüht, den gesellschaftlichen Standpunkt der Armen und Unterdrückten einzunehmen. Hierfür gibt es drei Gründe. Erstens: Dem jüdisch-christlichen Gottesverständnis nach hat Gott selbst die Versklavten erwählt und ihnen Befreiung als die Verheissung des Lebens zugesagt. Wenn diese und damit alle anderen Menschen als Ebenbild Gottes verhöhnt werden, wird auch Gott selbst verhöhnt (vgl. auch Mt 25). Von Jesus wird gesagt, dass er Partei für die Armen ergriffen hat. Er hat also nicht mit den Reichen gemeinsame Sache gemacht (vgl. die Sättigung der Vielen, Mk 6,35-44, und die Weherufe über die Reichen, Lk 6,20b.24). Zweitens ist die Option für die Armen (oder anders gesagt: Option wegen der Armen) eine analytische Option, die immer mit einer Gesellschaftsanalyse einhergeht, die die gesellschaftlichen Konflikte und Interessen als die Gründe für Verelendung und Ausgrenzung aufdeckt. Die Option für die Armen ist eine parteiliche Perspektive auf die ökonomischen, politischen und ideologischen Bedingungen der Gesellschaft und ihrer Konflikte. Zum dritten macht diese Option die politische Bedeutung jener stark, die unter der Sklaverei zu leiden haben und Egalität und Autonomie für sich und die Gesellschaft anstreben. Sie werden also als Subjekte ernst genommen. Aus diesem Grund widerspricht die Option für die Armen jeder Form von Paternalismus oder Assistenzialismus.
These:
Die Praxis der Kirchen kann nur dann ihrem Ursprung und der Verheißung des Reiches Gottes treu bleiben, wenn sie eine parteiliche Praxis ist. Eine parteiliche Praxis macht sich die gesellschaftlichen Widersprüche (wie z.B. arm und reich, mit und ohne Papiere etc.) bewusst und versucht diese zu überwinden, statt am Status quo (am immer-weiter-so) festzuhalten. Solidarisches Handeln unterstützt von Abschiebung oder zermürbendem Nichtstun bedrohte Geflüchtete in ihrem Willen nach einem selbstbestimmten Leben in Würde und in Gleichheit. Durch die Erfahrung von Solidarität können solche Menschen sich wieder als Subjekte ihres Handelns erfahren.
3. Solidarität mit Menschen in Not als eine Praxis des prophetischen, öffentlichen und zeichenhaften Handelns, das eine Perspektive auf die Realisierung des guten Lebens für alle eröffnet
Hintergrund
Durch die gesellschaftliche Kräfteverschiebung gewinnen rechte Positionen an Einfluss. Gleichzeitig setzt sich in den Migrationsdebatten immer mehr eine marktförmige Logik durch: Hier bleiben darf, wer auf dem Arbeitsmarkt verwertbar ist, um den Wirtschaftsstandort Schweiz (oder Europa) zu stärken durch billige Arbeitskraft, oder auch durch high potentials. Deswegen gehen Abschottung und Integration Hand in Hand.
Die prophetische Tradition der Bibel ist immer zentral, wenn auch oft marginalisiert gewesen. Die Prophetinnen haben gesellschaftliche und religiöse Missstände aufgedeckt, entlarvt und öffentlich kritisiert. Sie haben hierfür die Exoduserfahrung zum Maßstab genommen und die Tora als Verstetigung dieser Befreiungsgeschichte interpretiert. Dementsprechend waren die unterschiedlichen Formen von Herrschaft und Unterdrückung aus ihrer Sicht immer auch Brüche mit dieser Geschichte und mit dem Versprechen von einem zukünftigen Land, in dem Mich und Honig fließen werden (vgl. Ex 3,8). Dabei haben die Propheten oft die Herrschenden in aller Deutlichkeit für ihr Tun verantwortlich erklärt und zur Umkehr aufgerufen, um neu anzufangen. Das heißt, die Hoffnung auf Veränderbarkeit, als einem „erlösenden Wandel“ (Papst Franziskus), ist für die prophetische Praxis konstitutiv. Die Legitimation der Propheten besteht biblisch in ihrer Sprechposition auf Seiten derer, die ihrer Stimme beraubt sind. Was jedoch auch bedeutet, dass sie in der Regel nicht für eine Mehrheit, sondern für eine ignorierte oder ausgegrenzte Minderheit die unhintergehbare Wahrheit des Leidens ins Wort gefasst haben – auch wenn sie dafür Strafen oder gar den Tod auf sich nehmen mussten.
These:
Die Solidarität für Menschen in Not ist immer auch prophetisch, da sie das strukturelle Unrecht des Abschiebe- und Nothilferegimes entlarvt und mahnend dafür einsteht, dass eine humane Praxis möglich und erst recht notwendig ist. Sie instrumentalisiert dabei nicht den Einzelfall, sondern es ist ein exemplarischer, vor dem Gewissen und der biblischen Tradition begründeter prophetischer Einspruch in der Öffentlichkeit, gerade auch wenn es hierfür keinen breiten Konsens gibt.
4. Die Solidarität mit Menschen in Not als eine Praxis des messianischen Gesetzesverständnisses statt einer Einwilligung in die gegenwärtige Entrechtung durch den bürgerlichen Rechtsstaat
Hintergrund
Durch die Verschärfung des Asyl- und Ausländerrechts sind rechtsstaatliche Mittel und Spielräume im Handeln der Behörden immer enger geworden. Ausschaffungen nach Afghanistan oder in den Irak, Dublin-Überstellungen in die Obdachlosigkeit oder die Isolierung von Nothilfebezügerinnen in abgelegenen Unterkünften machen deutlich, dass auch Gerichte dem Handeln des SEM und anderer Asyl- und Ausländerbehörden nur bedingt etwas entgegensetzen können. Ein Beharren auf rechtsstaatlichen Lösungen kann unter den gegenwärtigen asyl- und ausländerrechtlichen Rahmenbedingungen eine humane Behandlung von Geflüchteten immer weniger gewährleisten. Auch strukturell kann der Staat eines wohlhabenden Industrielandes dies immer weniger leisten, weil immanente Widersprüche und Interessenskonflikte ihn daran hindern.
Jesus praktizierte ein messianisches Verständnis des Gesetzes. Dies wird deutlich in der Geschichte von Jesu Umgang mit dem Sabbatgebot (vgl. Mk 2,27). Papst Franziskus bietet das folgende Verständnis dieses Textes: „An einem Sabbat, hat Jesus, wie das Evangelium erzählt, zwei Dinge getan, durch die der Komplott, ihn umzubringen, beschleunigt wurde. Er ging mit seinen Jüngern durch ein Kornfeld. Die Jünger waren hungrig und assen von den Ähren. Über den „Eigentümer” des Feldes wird nichts gesagt… Dahinter steht die universelle Bestimmung aller Güter. Es ist wahr: Angesichts des Hungers hat für Jesus die Würde der Kinder Gottes Priorität gegenüber einer formalistischen, angepassten und interessebedingten Interpretation der Normen. Als die Gesetzeslehrer sich in heuchlerischer Empörung beklagten, erinnerte Jesus sie daran, dass Gott Liebe will und nicht Opfer, und klärte sie darüber auf, dass der Sabbat für den Menschen und nicht der Mensch für den Sabbat da ist. Er konfrontierte das heuchlerische, selbstgenügsame Denken mit der demütigen Intelligenz des Herzens, die dem Menschen immer den Vorrang einräumt und jene Logiken ablehnt, welche die Freiheit des Menschen zu leben, zu lieben und anderen zu dienen untergräbt.“ Es geht hier also weder um die Infragestellung des äusserst positiven Sabbatgebotes, noch um eine anti-jüdische Uminterpretation dieser Tradition, sondern um die Verdeutlichung seines messianischen Gesetzesverständnisses: Demnach muss das Gesetz (das menschengemacht und deshalb änderbar ist) immer im Dienste des Menschen stehen und darf ihn nicht soweit dem Gesetz unterordnen, dass dies dem Leben des Menschen zuwiderläuft. Das heisst, wo nicht der Mensch selbst zur höchsten Norm des Gesetzes wird, der Sabbat also nicht mehr für den Menschen da ist, sondern allein die formale Erfüllung des Gesetzes im Vordergrund steht, wird der Mensch „einer despotischen Macht unterworfen“ (Franz Hinkelammert). Jedes Gesetz muss sich also daran messen lassen, ob es neues Leid hervorbringt für diejenigen, die am stärksten des schützenden Rechts bedürfen.
These:
Die Kirchen sind dazu herausgefordert, angesichts einer inhumanen Asyl- und Ausländergesetzgebung und der dazugehörenden Verordnungen ihrer „demütigen Intelligenz des Herzens“ den Vorrang zu geben gegenüber einer fraglosen Erfüllung der Gesetze und Unterordnung unter die bestehende Ordnung. Das bedeutet, dass dem Staat keine freie Hand gelassen werden darf, wenn er Menschen ausschafft, abschiebt und psychischer Verelendung und sozialer Isolierung preisgibt. Es braucht vielmehr eine eindeutige Kritik dieser Gesetzgebung und notfalls eine Praxis des Zivilen Ungehorsams, um sich bestehendem Unrecht aktiv zu widersetzen.
5. Solidarität mit Menschen in Not als eine Praxis des Menschenrechtsschutzes statt einer Verhinderung der globalen Bewegungsfreiheit
Hintergrund
Das Prinzip der Menschenrechte kann nur universal für alle gelten, ohne Unterschied aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion etc. Es reicht jedoch nicht aus, Menschenrechte zu proklamieren, sondern sie werden erst dann eingelöst, wenn sie für alle umgesetzt sind und alle sie wahrnehmen können. Zudem sind Menschenrechte nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern die mussten und müssen von denjenigen erkämpft werden, denen sie nicht gewährt werden. Dabei gilt, dass nicht nur kodifizierte Rechte dazu zählen, sondern auch die, welche noch nicht festgeschrieben sind (deswegen aber nicht weniger Geltung haben). Dazu gehört auch das noch nicht kodifizierte Recht auf globale Bewegungsfreiheit. Für wenige ist es jetzt schon wirksam. So ist mit einem Schweizer Pass der visumsfreie Zugang zu 155 Staaten möglich. Gleichzeitig wird den meisten nicht-europäischen Menschen der Zugang zu Europa verwehrt. Die Folge ist, dass tödliche Einreiserouten genommen werden müssen.
Migration ist in den biblischen Erzählungen ein Wesenselement und zeigt wichtige geschichtliche Wendepunkte an: der Zug Abrahams und seiner Familie ins Land Kanaan, die Ankunft Jakobs in Ägypten, der Exodus, das babylonische Exil und die Rückkehr, die Flucht in die jüdische Diaspora etc. Deshalb spielt auch der Schutz von Migrantinnen und Migranten eine grosse Rolle, so auch in der Tora: „Die Fremde, die sich bei euch aufhält, soll euch wie eine Einheimische gelten und du sollst sie lieben wie dich selbst; denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen“ (Lev 19,34). Die eigene Fluchtgeschichte ist somit der Hintergrund für den menschlichen Umgang mit Migranten. Es ist somit nicht einfach eine moralische Verpflichtung, sondern sie hat mit der eigenen Herkunft zu tun. Zugleich lässt sich ausgehend von der biblischen Tradition das Recht auf Bewegungsfreiheit aufgrund einer universalen Würde und eines egalitären Menschenbildes begründen. Paulus macht deutlich, dass es nicht mehr „Jude, noch Grieche, nicht Knecht noch Freier, nicht Mann noch Frau“ (Gal 3,28) gibt, sondern es gemeinsame Rechte und eine Autonomie für alle gibt. Entsprechend der Nationalität den Zugang zu einem Territorium zu gewähren oder zu verwehren, widerspricht somit dem biblischen Verständnis des Menschen als Teil eines „gemeinsamen Hauses“ (Papst Franziskus).
These:
Jedes Festhalten von Menschen in unwürdigen Verhältnissen, jede Ausschaffung und Abschiebung ist ein Eingriff in die legitime Autonomie von Menschen, erst recht von jenen, denen an bestimmten Orten besondere Härten drohen. Deswegen ist die Solidarität mit Menschen in Not in ihrer vielfältigen Gestalt, zum Beispiel auch als Kirchenasyl, notwendige Menschenrechtspraxis, die die eigene Exodustradition ernst nimmt und bereits exemplarisch vorwegnimmt, dass Menschen aus guten Gründen ihren Aufenthaltsort eigenständig bestimmen können, da dies ihr Menschsein mit ausmacht.
Jakob Schädelin, 19. Dezember 2018