„Lebe so, dass jemand nachts an deiner Tür und deinem Fenster anzuklopfen wagt“ (Huub Oosterhuis) – Predigt zu Pfingsten 2020.
Geistvoll – geistlos. Ein geistvoller Gedanke, eine geistlose Bemerkung, eine geistvolle Kampagne, eine geistlose Werbung, der geistvolle Flashmob von Künstler*innen, der geistlose Mob der Rechten und Verschwörungsjünger.
Vielleicht habt Ihr gerade in den letzten Tagen und Wochen bei allem, was so durch die Medien gegeistert ist, auch manches Mal das eine so, das andere so kommentiert – auch in Gesprächen, die sich zwischen euch und anderen in der Krisenzeit entspinnen.
Wenn wir ‚geistvoll’ oder ‚geistlos’ sagen, weiß der andere ziemlich gut, was wir sagen wollen.
Vor gut zwei Wochen in einer regionalen Zeitung ergab die Lösung eines Worträtsels ein Sprichwort, das von Marie von Ebner-Eschenbach stammt: „Geistlose kann man nicht begeistern, aber fanatisieren kann man sie.“
Das ist überdeutlich. Ich traue mich zu sagen, dass das auch meine Erfahrung deckt. War zu Beginn der Coronakrise fast einhellig der Tenor: Wir lernten wieder, was Solidarität sei, und es gab und gibt ja auch wundervolle Aktionen angefangen bei den Nachbarschaftshilfen bis zu Beiträgen von Künstlern, Musikerinnen, kleinen Betrieben, vielen einzelnen Menschen, Jugendgruppen, Pfarreien. Wir dürften nicht wieder zu der Welt zurück, wie sie war, hieß es, es müsste sich etwas ändern im Staate… Und es wurde gigantische Geldsummen Hilfe gesprochen…
Und nun sind wir fast in der Welt zurück, auch wenn es noch nicht vorbei ist. Und es macht nicht nur ein Virus weiterhin Angst, sondern die alte Angst ist zurück, die von den „Weltbesitzern“, wie Dorothee Sölle sie nannte, geschürte Angst: Z.B. zu kurz zu kommen im Lauf eben dieser zurückgekehrten Welt, in der gnadenlos Schulden eintrieben werden. – Vielleicht denken wir nicht gleich an Fanatismus, aber die gleichen geistlosen Phrasen, Haltungen und „Politiken“ sind wieder da. – Ein paar Beispiele von Geistlosigkeit als Schlaglichter – und dann Pfingsten: versprochen!
– Gigantische Hilfssummen in Europa und für Europa, für europäische Konzerne und für Menschen mit europäischen Pässen und gleichzeitig nimmt die Flüchtlingspolitik „race to the bottom“ Fahrt auf: So nennt man den Überbietungswettbewerb in der Verschärfung der Asylgesetze, gefolgt von Rassismus, Zurücksetzung, Hassreden und Gewaltakten von Rechtsextremisten auf Europas Straßen und den Foren des Internets.
– Und: 23 unbegleitete Minderjährige dürfen aus den Lagern hierher mit dem Ziel der Familienzusammenführung. 23. Wir müssten rot werden vor Scham und angesichts des geistlosen Gefeilsches, wo es um Menschenleben geht. Übrigens: Das kleine, vergleichsweise arme Portugal nimmt ganz unbürokratisch 500 Menschen auf.
– Das Ablenkungsmanöver, mit dem angesichts der Schulden die Generationen wieder einmal gegeneinander ausgespielt werden, um das Geld wieder bei den Schwächsten zu holen durch Kürzungen und Streichungen statt endlich die entscheidenden Fragen der Verteilung von Einkommen und Vermögen, statt die Frage nach der „Wirtschaftsreligion“ und der von ihr betriebenen strukturellen und systemischen Menschenrechtsverletzungen radikal zu stellen und anzugehen, die Frage, wie wir mit den Tieren und den Pflanzen, der Schöpfung Gottes umgehen, der der Atem auszugehen droht.
– Die immer gleichen Verschiebungen und Ersatzdiskussionen sind nämlich wieder da. Und da habe ich ein eher ungewöhnliches Beispiel: Auch in der gleichen regionalen Zeitung auf der letzten Seite prangt die Schlagzeile ‚Liebe Fußballer, ihr seid keine Vorbilder’. Darunter zwei Fotos Yvon Mvogo auf einem Ferrari in Beverly Hills und Granit Xhaka auf einer Yacht in Miami. Ja, Fußballer verdienen definitiv zu viel, ja, sie protzen auf Instagram. Ja, und ein dritter, auch mit Migrationsursprung wird zitiert: „Make money, not friends.“ Aber: Was soll das?! Warum diese Beispiele, die nur die Fassade eines perversen Systems zeigen, das man die, die aus dem Ghetto stammen, gelehrt hat, zu verinnerlichen. Das für sie das seltene Glück bedeutete, ordentlich was vom Kuchen abzubekommen. Dieser süffisante Artikel ist im Kern Ablenkung und Verschiebung, gepaart mit jenem hässlichen unterschwelligen Rassismus und dieser Arroganz der Eliten, die im letzten Satz des Beitrags antönt, zusammengefasst: Wenn die keine Fußballer sind, interessiert es eh keinen mehr, was die zu sagen haben.
Dabei ist etwas ganz anderes obszön, diese Woche glanzvoll in allen Medien zu sehen, der Prototyp des Weltbesitzers: Elon Musk, Tesla-Chef, übernimmt quasi mit Science-Fiction-Ästhetik die us-amerikanische Weltraumfahrt und träumt vom Reisegeschäft zum Mars und beschimpft gleichzeitig die Coronamaßnahmen Kaliforniens als „faschistisch“, die ihn hindern seine Profitgier auszuleben, was nicht nur geistlos ist, sondern in einem kurzen Moment zeigt, wie wahr der Nachsatz im Sprichwort von Marie von Ebner-Eschenbach ist. Nämlich zu sehen: Woraus Faschismus wirklich gedeiht.
– Entschuldigt, das musste jetzt sein. Wieder „zehn Gänge“ zurück zum „Geistlosen“ unter uns: Die Frage etwa, ob wir wieder in alle Welt verreisen können beherrscht uns mehr, als die Sehnsucht derer, die um ihr Leben laufen.

Aber wenn wir es merken und es uns ein wenig erschrickt, gehören wir nicht zu den „Geistlosen, die man nicht begeistern kann“. Vielleicht zu denen, die aus Angst hinter verschlossenen Türen sitzen. Nicht wegen Corona, wobei die Krise uns doch auf eine Weise die pfingstlichen Texte erschließen hilft: Zu ahnen, was es heißt, wenn man nicht einfach vor die Tür kann, zu ahnen, was es heißt, wenn das Leben vor einer Katastrophe steht, wenn der einzige Ausweg, ohne zu wissen wie, das Weglaufen ist.
Beide biblischen Texte bringen die Vorstellung von verschlossenen Türen, von lähmender Angst, von Erstarrung, von diesem Sich-tot-Stellen und Nichts-Sehen-Wollen.
Dabei steckt in diesen Menschen, die in den Blick kommen, unbändige Lebenskraft, der Glaube an Veränderung, die Liebe zu Menschen…
Und es wird erzählt, dass sie alles aufmachen, Herzen, Türen, den Mund. Diese unglaubliche, wundervolle Text aus der Apostelgeschichte erzählt, wie alles bunt ineinanderfließt: Völker, Provinzen, Regionen, Länder, Sprachen. Und wie Menschen außer sich geraten wegen der kompletten Überraschung, dass alles einfach und anders sein könnte.
Es ist ein Zukunftstext, es ist ein Hoffnungstext, ein Lebenstext, ein Auferstehungstext… – Es gibt da auch diesen berühmten Textmarker, von dem ich schon zwei Mal gesprochen habe…: ‚kai egéneto’ – ‚und es geschah’, der sagt: Hier wird etwas erzählt, was Menschen, Leben, Welt verändert…
(Oder dass sich gewaltig was verändert hat und verändern kann…)
Und es wird verbunden mit einem Wort und einer Weise, von Gott zu sprechen, die aus dem ersten Testament geliehen ist. Das Wort ist im griechischen Original gleich in drei Varianten da und im deutschen immer mit ‚erfüllt’ übersetzt: „Erfüllt“ sind die Zeit, das Haus, die Menschen. – Und zwar: Von göttlicher Geistkraft. Da ist alle biblische Erinnerung drin: Die „ruach“, Geistkraft über den Wassern ganz vorne im Buch Genesis, die aus dem Chaos und ungeheuren Gewalt von kosmischer Materie und Energie des Weltall eine winzige und zerbrechliche Welt des Lebens schafft; die Geistkraft, die einem toten Tongebilde Atem einhaucht; die Geistkraft, die trotz der menschengemachten „killing fields“ (Buch Ezechiel) die Knochen wieder zu liebenden und leidenschaftlichen Körpern macht.
Und, ganz konkret, stehen hinter dem Text der Apostelgeschichte die vom Sinai, als das Volk, aus Ägypten aufgebrochen, in Sturm, Beben und Feuer die Weisung zum Leben erhält; und die Erzählung des Propheten Elija. Die Baalspropheten, die für Lügen, Menschenopfer, Tod und Ausbeutung stehen, sind auf Elias Wort hin tot. König Ahab und Königin Isebel lassen den ganzen Apparat los zur Jagd auf Elija. Und ich bringe hier nur Zitate aus der Bibel in gerechter Sprache, die das meisterhaft übersetzt und darin auch Menschen von heute vor unser Auge treten lässt: „Da bekam Elija es mit der Angst zu tun. Er machte sich auf und lief um sein Leben.“ „Dort [in der Wüste] setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wollte nur noch sterben.“ „Da kam die Botschaft des Ewigen… und berührte ihn: ‚Steh auf, iss, denn der Weg, der vor dir liegt, ist weit!’ Und er stand auf, aß und trank und ging in der Kraft der Speise 40 Tage und 40 Nächte bis zum Gottesberg.“ (Hinweis auf die Wüstenzeit des Volkes)
Und wieder: Sturm, Beben, Feuer. Allein: Hier ist Gott nicht mehr. Elija entdeckt Gott im „Geräusch eines leisen Wehens“. „Und als Elija dieses hörte, da verhüllte er mit seinem Mantel sein Gesicht, ging hinaus und stellte sich in den Eingang der Höhle. Da sagte eine Stimme zu ihm: ‚Was machst du hier, Elija?’“ So ist der biblische Gott: Wir sehen ihn nur, wenn wir das Gesicht verhüllen, wie von hinten. Und er fragt uns nur. Und sagt vielleicht: Geh, kehre auf deinem Weg zurück.
Bei Mose und Elija ist Horeb, Sinai, der Gottesberg sowohl Zufluchtsort als auch Aufbruchsort: Beides – Zuflucht: aus meiner einzelnen Angst, und Aufbruch: aus unserem gemeinsamen Mut.
So wünsche ich uns, dass uns die Coronakrise zum Fragen und Staunen bringt. Doch etwas anders zu machen, nicht mehr locker zu lassen. Und: Wenn „neue“ Normalität, dann die einer anderen Welt in unseren Köpfen, geist-voll, nicht geist-los.
Dazu und zu unseren Bibeltexten noch ein Wort von Huub Oosterhuis: „Lerne fragen, flehen, drängen, am Fenster klopfen. Lerne beten. Verlange. Sei nicht matt, gelassen, vage, sei heftig, bewegt, wachsam, anrührbar. Verlange leidenschaftlich nach der Wirkung des Heiligen Geistes: Dass der Name Gottes, der Befreiung und Liebe bedeutet, Wirklichkeit werde in Menschen…
Und lebe so, dass jemand nachts an deiner Tür und deinem Fenster anzuklopfen wagt.“
Und dann: „Komm, Heiliger Geist… des Unglaubens an das Schicksal! Komm, Geist des Widerstands, dass wir uns nie vor den Tatsachen beugen werden, wenn wir sie auch nicht ändern können, noch nicht.
Peter Bernd
Der Text der Predigt: hier
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